Berlinย –ย Bundesweit werden viele Opfer von Straftaten enttรคuscht, weil die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen einstellt. Der Berliner Oberstaatsanwalt Ralph Knispel kritisiert, dass die Justiz so an Ansehen in der Bevรถlkerung verliere. Er sehe die Ermittlungsbehรถrden kurz vor dem Kollaps, so Knispel im rbb. “Nicht etwa, weil Polizeibedienstete zu dumm, unfรคhig oder schlecht ausgebildet sind, sondern unzureichend ausgestattet, sowohl technisch als auch personell, so dass Verfahren teilweise eher oberflรคchlich bearbeitet werden.”
Benjamin Jendro von der Gewerkschaft der Polizei bedauert gegenรผber dem rbb, dass die Anzahl der Mitarbeiter:innen nicht reiche, um alle Fรคlle zu bearbeiten. “Wenn ich รผber mehr als 80.000 Betrugsfรคlle jedes Jahr rede und mir anschaue, wie der Personalkรถrper aufgestellt ist, muss ich erst einmal feststellen, dass allein in der zustรคndigen Abteilung fรผr Betrug tรคglich mehr als 200 Fรคlle eingehen.” Die “Vielzahl an Fรคllen, mit denen man sich beschรคftigen muss”, habe eine “Priorisierung” zur Folge. Hinzu kรคme, dass in der Vergangenheit immer wieder Ermittler aus der Betrugsabteilung in andere Abteilungen versetzt worden sein, um etwa den Bereich Terrorabwehr zu stรคrken.
Stefan Redlich, stellvertretender Leiter des Landeskriminalamts Berlin, bestรคtigt: Die Ermittler mรผssen priorisieren. Demzufolge gibt es viele Betrugsfรคlle, die vergleichsweise schnell eingestellt werden. “Der Menge an Fรคllen werden wir Herr, indem wir priorisieren, indem wir uns die Fรคlle angucken und sehen: Wo gibt es Ermittlungsansรคtze, die vielversprechend dazu fรผhren werden, dass wir die Tรคter ermitteln? Oder es ist ein Fall, bei dem wir von vornherein sagen werden, hier kรถnnen wir wahrscheinlich nicht den Tรคter finden?”
“Schmale Bearbeitung” heiรt so etwas im Jargon der Polizei – und deren Gewerkschaftsvertreter Jendro kennt die Folgen: “Natรผrlich ist es ein Stรผck weit eine Aushรถhlung des Legalitรคtsprinzips. Der Rechtsstaat greift nicht in allen Kriminalitรคtsfeldern. Und die Menschen mรผssen bei bestimmten Straftaten, die auch in unserem Land passieren, auch mehr damit rechnen, dass das nicht verfolgt werden kann.”
Der Sprecher der Berliner Staatsanwรคlte Ralph Knispel erinnert jedoch an den Anspruch der Bevรถlkerung auf einen funktionierenden Rechtsstaat “nicht etwa nur fรผr schwerste Verbrechen gegen das Leben, sondern auch fรผr vermeintlich kleine, oft vielleicht nur bagatellhaft erscheinende Delikte. Wenn Menschen bestohlen werden, Einbruchdiebstรคhle zu beklagen haben, kรถrperverletzt, beleidigt werden … Auch da hat die Bevรถlkerung Anspruch darauf, dass der Staat dort mit allen zur Verfรผgung stehenden Mitteln vorgeht und diese verfolgt.”
Wenn Handwerker eine Leistung versprechen und dafรผr kassieren, obwohl sie schon wissen, dass sie nicht wie versprochen arbeiten werden, fasst die Polizei solche Fรคlle mit anderen in der Kategorie “Leistungsbetrug” zusammen. Zuletzt wurden rund 37 Prozent der hier erfassten Taten in Berlin aufgeklรคrt.
Oberstaatsanwalt Ralph Knispel kennt viele Grรผnde, warum die Staatsanwaltschaft oft unverhรคltnismรครig lange braucht bis zur Prozesserรถffnung: Aus Kostengrรผnden werde zu sehr am Personal gespart. Zwar habe das Land Berlin seinen Gerichten in den letzten fรผnf Jahren 89 neue Staatsanwรคlte spendiert, dafรผr fehle es aber an Hilfskrรคften. Ein weiteres รrgernis sei die unzureichende technische Ausstattung. Immerhin gebe es zwar inzwischen Laptops fรผr die Staatsanwรคlte, so der Sprecher der Berline Staatsanwรคlte. “Aber zur Wirklichkeit gehรถrt auch dazu, dass Sie damit nicht ins WLAN-Netz gehen kรถnnen, sondern das Ganze รผber einen Mobilfunkbetreiber lรคuft. Wenn sie in entlegeneren Gegenden auรerhalb Berlins wohnen, teilweise auch innerhalb Berlins, haben sie schlichtweg keinen Empfang. Das heiรt, sie kรถnnen mit der Gerรคtschaft nicht arbeiten.” Aus Kostengrรผnden sei auch darauf verzichtet worden, die Software auf zwei parallelen Systemen laufen zu lassen. So mรผsse bei Wartungsarbeiten das gesamte IT-System zweimal im Monat an einem Werktag ab 17.00 Uhr abgestellt werden. “Hier kรถnnen Sie dann nicht ernsthaft technisch arbeiten. Wir haben auch Vorfรผhrungen beim Ermittlungsrichter, wo dann ein Ermittlungsrichter sagt: Nach 17.00 Uhr kann ich hier leider mit der Technik nicht mehr arbeiten. Das heiรt: Sie kรถnnen auch keine Bundeszentralregisterauszรผge anfordern, Sie kรถnnen keine Protokolle ausdrucken. Das ist die Lebenswirklichkeit, mit der wir zu kรคmpfen haben.”
Polizeigewerkschafter Jendro klingt resigniert, wenn er in der rbb-Dokumentation das Fazit zieht: “Aufgrund des gesetzlichen Rahmens und der heutigen technischen Mรถglichkeiten und auch der politischen Priorisierung ist der Rechtsstaat relativ machtlos gegen Betrรผgereien und Betrรผger.” Staatsanwalt Knispel will weiter fรผr Verbesserungen kรคmpfen, denn: “Der Rechtsstaat ist und darf nicht machtlos sein. Er wird nicht alle in angemessener Form befriedigen kรถnnen, aber er ist nicht machtlos.”
Der Richter und Strafrechtsexperte Stefan Caspari hofft “auf verbesserte Ermittlungsmรถglichkeiten durch Einsatz von zum Beispiel kรผnstlicher Intelligenz, durch Einsatz von mehr Technik im Ermittlungsverfahren und im Strafverfahren. Da muss natรผrlich auch Geld in die Hand genommen werden, und das muss man einfach mal zusagen. Auch die Justiz kann nicht immer der Sparstrumpf der Lรคnder und des Bundes sein. Das wird eine Mammutaufgabe werden.”
rbb-Fernsehen Montag, 03.01.2022, 20.15 Uhr
“Kriminelle Abzocker – wie machtlos ist der Rechtsstaat?”
